Oksana Kuschljaewa
Bilder – Ksenia Shukh

Übersetzung – Petra Huber

Ein Mädchen
1. Es war einmal ein Mädchen. Das hieß Katja. Und dieses Mädchen Katja hatte weder Vater noch Mutter noch Schwester noch Bruder. Eigentlich hatte Katja niemanden außer sich selbst, und deshalb tat sie, wozu sie Lust hatte. Und hatte sie zu nichts Lust, setzte sie sich auf den Ofen und sah zum Fenster hinaus. Draußen war ein Weg, den verschiedene Menschen entlanggingen – junge und alte, zu zwein oder zu drein, mit Hunden oder auch Gänsen oder anderes Getier. Draußen herrschte ein reges Treiben, im Haus war Katja ganz allein. So war es schon immer gewesen. Vor fünf Jahren und vor zehn und auch vorher schon. Seit sie denken konnte. Eines schönen Tages aber erwachte das Mädchen, stand auf und sagte: „Ich will nicht mehr allein sein, ich will zu zwein sein. Vielleicht sogar zu drein." Sprach's, und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. Also schlüpfte Katja in ihre Stiefel und den wattierten Mantel und begab sich zum Markt. Dort waren sämtliche Dorfbewohner versammelt. Als sie Katjas gewahr wurden, spotteten sie: „Vielleicht möchte das kleine Mädchen ja unser Hühnchen kaufen?" „Vielleicht will ich das", gab Katja zurück. „Oder sollen wir dir unsere Katze verkaufen?" „Ei, warum nicht, ich nehm auch die Katze." „Mädchen Katja, dir verkaufen wir nichts, denn wie könnten wir so jemandem wie dir Tiere anvertrauen, du wirst sie sofort verrecken lassen." Da wunderte sich Katja, sie hatte nicht gewusst, dass die Leute in ihrem Dorf so dumm waren. Sie begab sich nachhause, zog das Zauberbuch aus dem Regal und begann zu lesen: „,Wie man Verderben auf Vieh herabschwörtʻ, nein, das ist es nicht; ,Wie man sich gehässiger Menschen entledigtʻ, nein, das auch nicht; ,Wie man ein lebendes Wesen zuhause erschafft …', ah, genau, das ist es, , … hier die Zutaten: Mehl, Hefe, Zucker, Butter …ʻ" Katja schrieb das Rezept ab, stellte das Buch zurück ins Regal und machte sich an die Arbeit. Sie setzte den Teig an, stellte ihn ans Fenster und überlegte, wen sie daraus kneten sollte. „Im Buch ist ein dicker, fetter Pfannkuchen abgebildet, aber was, wenn ich einen Kolobok knete und er am Ende dümmer als das Nachbarshuhn ist. Besser knete ich mir ein Mädchen, wie ich eines bin." Und Katja begann den Teig zu einem Mädchen zu kneten, das haargenau wie sie selbst aussah, nur ein wenig kleiner. Sie schob es in den Ofen, wartete sechzig Minuten, löschte das Feuer, öffnete die Ofenklappe und sprach: „Grüß dich, Katja die Zweite, ich bin Katja die Erste, wenn du willst, können wir zusammen hier leben!" „Grüß dich!", erwiderte Katja die Zweite, „noch seh ich nichts, was dagegen spräche, also einverstanden! Hast du etwas zu essen da?"

Und so begannen die beiden Katjas zusammen zu leben, zusammen auf dem Ofen zu sitzen und zu tun, wozu sie Lust hatten. Nur gingen die Dorfbewohner nun ständig an Katjas Haus vorbei und versuchten, zum Fenster hineinzulinsen. „Was ist hier nur los?", riefen sie empört, „erst war da eine Katja, jetzt sind es zwei, und was, wenn es morgen gar eine Million davon gibt?" „Hätten wir Katja nur die Katze verkauft", sagten sie betrübt, „denn sie hat, um uns zu ärgern, ein zweites Mädchen gebacken!" Sie kamen und kamen, sie zeterten und zeterten; und dann tauchten sie mit Brautwerbern auf: „Katja die Erste, gib Katja die Zweite unserem Jungen zur Frau!"; dann reichten sie sogar Beschwerde bei der Polizei ein: „Im Haus Nummer fünf in der Puschkin-Straße werden widerrechtlich Mädchen gebacken!" Eines schönen Tages sagte Katja die Zweite zu Katja der Ersten: „Ich geh lieber in die Welt hinaus, in diesem Dorf ist kein Platz für mich." „Ja, du hast recht, Katja die Zweite, das habe ich auch schon gemerkt: hier ist kein Platz für dich. Und so sehr ich dich liebe und so schrecklich ich dich vermissen werde, versuche ich nicht, dich davon abzubringen. Leb wohl, Katja die Zweite." Sie umarmten sich, dann ging jede ihres Weges. Aus den Häuserfenstern spähten die dummen Dorfbewohner, weinten und verlangten die Entflohene zurück. Doch Katja die Erste schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit mehr, sondern ging schnurstracks zu sich nachhause.

2. Dort lebte Katja wie früher ganz allein. Wieder wurde sie einfach Katja genannt. Sie schaffte sich eine Katze und auch ein Huhn an. Die Dorfbewohner ließen sie nunmehr in Ruhe und machten einen großen Bogen um ihr Haus. Katja fing wieder an, auf dem Ofen zu sitzen, im Arm die Katze und das Huhn, und ihr Leben war fast so wie früher. Doch etwas beunruhigte sie. Bisweilen zuckte sie zusammen, bisweilen lauschtе sie auf ein Knarzen der Tür, auf jemandes Schritte – aber wer sollte schon kommen? „Wie schön es doch war, zu zwein zu leben", dachte Katja. „Jede saß in ihrer Ecke, las ein Buch, und es war gut so. Und jetzt halt ich das Huhn in einem Arm, die Katze im anderen und dennoch ist alles schlecht. Vielleicht sollte ich mir wieder eine Katja backen? Aber was würde das nützen? Auch die ginge bestimmt bald von hier weg! Wer will schon hier bei so dummen Leuten leben?" Plötzlich traf die Erkenntnis sie wie ein Blitz: „Warum sitze ich noch hier herum? Warum bin ich noch hier?" Und da gab Katja den Nachbarn ihre Tiere zurück, steckte etwas Proviant ein und machte sich auf den Weg. Als sie an eine große Gabelung kam, fragte sie sich: „Gehe ich nach rechts, werde ich nur Katja die Zweite einholen, und sie wollte nicht eingeholt werden." Und so machte Katja kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung.

3. Katja ging über ein Feld, durch einen Wald, an einem Fluss entlang und über eine Furt, sie ging, wohin die Füße sie trugen, und setzte sogar nachts, wenn es dunkel war, den Weg fort. Wie schön es doch war, einfach zu gehen, weiter und immer weiter. Flüsse, Wälder und Berge blieben hinter Katja zurück, und sie freute sich darüber, dass sie nirgends stehen blieb und dass das Haus, das sie zurückgelassen hatte, bereits weit hinter ihr lag. Eines Tages gelangte Katja an eine breite asphaltierte Straße, die vor ein großes goldenes Tor führte. Dieses stand offen und gab den Blick frei auf eine lichterfunkelnde Stadt. In dieser Stadt gab es genau wie in Katjas Dorf eine Puschkinstraße und eine Leninstraße, nur drängten sich hier viele Leute. Diese waren bunt und glänzten und schillerten in der Dunkelheit. Sie gingen und standen, machten Fotos und sprachen Einladungen aus. „Wie schön die Bewohner dieser Stadt sind. Vielleicht bleibe ich ein Weilchen hier", dachte Katja. Doch sobald sie die Straße entlangging, ließen die Menschen alles stehen und liegen und musterten sie so gierig, als wollten sie sie mit Haut und Haaren verschlingen. „Komm zu uns, komm zu uns", riefen sie, „wir vergolden dich, wir malen dich bunt an." Andere wiederum schrien: „Verlass sofort unsere schöne Stadt!". „Kauf dir wenigstens Rouge!", erklang es flehend aus einer Nachbarstraße. „Schön sind sie, aber genauso dumm wie die in meinem Dorf!", sagte Katja laut und lief davon.

4. Nachdem sie aus der schönen Stadt geflohen war, setzte Katja ihren Weg fort, bis sie zu einer ausgesprochen hässlichen Stadt kam. Vom windschiefen Stadttor blätterte die grüne Farbe ab, Puschkin- und Leninstraße waren voller Furchen und Schlaglöcher, an den Rändern häufte sich der Unrat. Hier sah niemand Katja an, man sah auch einander nicht an, sondern richtete den Blick zu Boden, auf die Pfützen und Furchen. Daher rempelten die Leute einander ständig an und schimpften dann so heftig, dass auf den Straßen ein schrecklicher Lärm herrschte.

5. Auch aus dieser Stadt floh Katja rasch und setzte ihren Weg fort, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf. Sie verweilte jedoch nirgends, da die Menschen, denen sie begegnete, sie anders kleiden, beschimpfen oder gar verheiraten wollten. „Was gibt es doch für unterschiedliche Menschen auf der Welt", seufzte Katja, während sie ein weiteres Flüsschen an einer Furt überquerte, „dennoch gleichen sie den Bewohnern meines Dorfes, als wären sie alle in demselben Ofen gebacken worden. Ich muss wohl noch weiter von zuhause weggehen. Am besten besteige ich ein großes Schiff und fahre irgendwohin, wo es keine Puschkin- oder Leninstraßen gibt."

Katja bestieg also ein großes Schiff und reiste in ferne Länder, in ferne Städte, wo es keine einzige Puschkin- und kaum Leninstraßen gab, und die Leute ganz anders waren, als die, die sie kannte. Und trotzdem blieb Katja nirgends lange. „Ich hab mich ja schon daran gewöhnt zu gehen und zu fahren, zu fahren und zu gehen, warum sollte ich mit einem Mal irgendwo bleiben? Natürlich begegnen einem auch gute Menschen, manche davon gar nicht so dumm, doch alle sind sie mir ganz fremd." Und so ging Katja immer weiter, ohne irgendwo zu verweilen, bis sie eines Abends bei einem kleinen Dorf ihr Nachtlager aufschlug. Sie legte sich schlafen, und als der Morgen graute, machte sie sich auf, die Gegend zu erkunden. Katja ging durch die Straßen und staunte darüber, dass der Ort ihrem Dorf ähnelte und andererseits überhaupt nicht – da war eine Straße, die haargenau so aussah wie die, in der sie früher gelebt hatte, dort stand sogar ihr Haus, das jedoch irgendwie anders aussah. Katja öffnete die Gartenpforte, klopfte an die Haustür und trat ein. Drinnen saß Katja die Zweite auf dem Ofen und ließ die Beinchen baumeln, während sie im Zauberbuch blätterte. „Gut, dass du da bist", begrüßte Katja die Zweite sie, „komm herein und setz dich, ich mache uns Tee." Und so schlürfte Katja die Erste Tee aus der Untertasse und kletterte dann auf den Ofen, um den Erzählungen Katjas der Zweiten zu lauschen. Diese hatte allerlei zu erzählen: über ihre Reise um die Welt, über große und kleine, schöne und hässliche Städte, und darüber, wie sie eines Tages in ihr Dorf zurückkehrte und begann, dort alles zu verändern. „… ich habe Gräben verfüllt, Zäune gestrichen, einen Reiseklub eröffnet und dort den Dorfbewohnern Filme über verschiedene ferne Länder gezeigt. Erst haben sie dauernd Beschwerdebriefe an die Stadt geschickt, bis sie sich daran gewöhnt hatten; jetzt helfen sie mir sogar und haben mich als Zeichen der allgemeinen Anerkennung auf irgendeinen wichtigen Posten gewählt." Katja die Erste lauschte im Halbschlaf und dachte: „Wie gut es doch ist, dass die Erde eine Kugel ist!"

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