Darja Apachontschitsch
Bilder – Kristina Anishchenko

Ubersetzung –
Münze U
Nicht in einem fernen Königreich, sondern in einem ganz gewöhnlichen Wohnhaus lebten einmal zwei Schwestern - Anja und Tanja. Sie hatten eine durchschnittliche Familie: Mutter, Vater, Großmutter und eine Katze. Einen Großvater gab es nicht, er starb vor langer, langer Zeit im Krieg und Anja und Tanja hatten ihn nie gesehen, nur sein Foto, das eingerahmt an der Wand hing.


Die Schwestern waren unterschiedlich: Anja ging in die fünfte Klasse und liebte Enzyklopädien und Tanja ging in die dritte Klasse und liebte Tiere. Dennoch wurden sie oft miteinander verwechselt und ärgerten sich darüber, dass ihre Namen sich so ähnelten. Hätten sie zum Beispiel Suzanna und Verlibra geheißen, dann wäre es viel besser gewesen.


Man kann nicht sagen, dass die Mädchen ein langweiliges oder schwieriges Leben hatten, nein. Sie gingen gerne in die Schule, besuchten verschiedene Nachmittagskurse, bastelten zu Hause und schauten Zeichentrickfilme. Vielleicht wäre unsere Geschichte ohne besondere Ereignisse weitergegangen, hätte sich nicht ein wahrhaftig magischer Vorfall ereignet.

Zunächst war aber nichts Magisches daran: Tanja und Anja besuchten mit ihrer Großmutter deren Freundin Tamara. Diese Freundin - auch eine alte Dame im Ruhestand, wie die Großmutter der Mädchen - lebte mit ihrer getigerten Katze in einer Wohnung voller Pflanzen am Rande der Stadt. Die Mädchen hatten sie bereits besucht und liebten es, Tamaras alte Fotos anzuschauen, ihre alten Hüte anzuprobieren, mit der Katze zu spielen und Geschichten von Abenteuern zuzuhören. In ihrer Jugend erkundete Tamara ferne Wälder, besuchte den hohen Norden und Vulkane. An diesem Tag bat Tamara die Mädchen ihr zu helfen.



- Tanja, Anja! Ihr liebt doch alte Schätze? Dann helft mir heute, - Tamara stellte eine große Holzschatulle vor die beiden. - Ich brauche das alles nicht, aber es wäre schade alles wegzuwerfen. Schaut doch mal, ob für euch etwas dabei ist. Das meiste davon ist Krimskrams, aber bestimmt gibt es auch etwas Wertvolles.


Voller Freude begannen die Mädchen den Inhalt der Schatulle zu sortieren. Es gab einzelne Ohrringe aus alten Zeiten, Schlüssel, die wie Fragezeichen aussahen und Zahnräder, die inzwischen nur noch in Museen zu finden sind. Während die Mädchen die Schätze begutachteten und teilten, tranken die alten Damen Tee, unterhielten sich und kommentierten bisweilen einzelne Fundstücke der Mädchen oder erklärten, wozu einige der Dinge dienten.


- Und was ist das für eine Münze? Schau, da steht nicht mal eine Zahl, nur der Buchstabe "U", was ist das?

- Das ist... – Tamara überlegte. - Anscheinend haben wir das von einer Reise mit meinem ersten Mann mitgebracht ... Ja genau, wir haben einer Straßenverkäuferin fast alle ihre Souvenirs abgekauft und sie hat uns diese Münze geschenkt und gesagt, dass sie über magische Kräfte verfügt. Wir müssen uns etwas wünschen, aber unbedingt gemeinsam! Dann sollen wir die Münze in den Fluss werfen und der Wunsch wird in Erfüllung gehen. Ha-ha, auf was für Ideen die Leute kommen: sie werfen Münzen in Brunnen und binden Knoten, damit Wünsche in Erfüllung gehen!

Tamara lachte erneut und erinnerte sich an die Reise und ihre Jugend.

- Warum hast du keine Münze ins Wasser geworfen? Hast du dir keinen Wunsch überlegt? - fragte Tanja.

Tamara überlegte:
- Wir konnten uns auf keinen gemeinsamen Wunsch einigen. Wir diskutieren hin und her und haben am Ende doch nichts entschieden. Ich wollte etwas Lustiges, zum Beispiel, dass Menschen wie Vögel fliegen können. Mein Mann wollte aber Fabrikdirektor werden.

- Und, ist er einer geworden? fragte Anja.

Tamara lachte wieder:
Nein, er wurde kein Fabrikdirektor. Nach dieser Reise haben wir uns auch bald scheiden lassen. Er war ein schrecklicher Langweiler. Ich lebte daraufhin sehr glücklich, vergaß aber die Münze. Aber ihr könnt euch etwas einfallen lassen, wobei nur ein gemeinsamer Wunsch zählt.

Anja drehte die Münze in ihren Händen: sie war aus hellem Metall, sehr klein und wirkte nicht gerade sehr wertvoll:
- Nein, ich glaube nicht an Zauberei.

Aber Tanja wollte sehr gern daran glauben:
- Komm, versuchen wir es trotzdem? Komm, bitte, einfach so? Zum Spaß, ok?

- Ähh, ich weiß nicht, wir sind doch keine kleinen Kinder mehr ...

- Schau, Tamara und ihr Mann konnten sich nicht einigen, und wir jetzt etwa auch nicht? Wir verstehen uns doch gut! - Tanja wusste, wie man die richtigen Argumente findet.

Jetzt wurde Anjas Stolz angestachelt: wir können das doch bestimmt besser als der einfältige Ex-Ehemann von Tamara?!

- „Also gut, wir wünschen uns etwas, aber ich glaube trotzdem nicht an Zauberei, sondern nur an die Wissenschaft", lenkte Anja ein.

Die Mädchen blieben noch eine Weile bei Tamara. Zu Hause begutachteten sie ihre Schätze erneut: Zahnräder, Schlüssel und andere alte Fundstücke und redeten dann weiter über den gemeinsamen Wunsch.

- Vielleicht könnten wir uns wünschen, dass das Wetter überall gut wird? Und die Sonne soll immer scheinen, damit das Meer warm bleibt. - schlug Tanja vor.

- Nein, das wäre schlecht, es würde der Natur schaden. Die Natur braucht Regen und Schnee, sonst wird nichts wachsen,- widersprach Anja. – Wünschen wir uns lieber, dass die Menschen in den Weltraum ohne Raumanzug fliegen können?

- Naja ... Es ist etwas langweilig ... Vielleicht wünschen wir uns einen Süßigkeitensee? Oder ein ganzes Meer davon?

- Süßigkeiten sind natürlich super, aber irgendwie ist es schade, einen ganzen Wunsch auf sowas Einfaches zu verschwenden. Überlege mal, wir könnten uns wünschen, dass alle Menschen auf der ganzen Welt glücklich sind!

- Auf der ganzen Welt ... - Tanja dachte nach, - Die Welt… der Weltfrieden! Genau! Damit es keinen Krieg gibt!

- Ja, das wäre gut, aber wie?

- Vielleicht wünschen wir uns, dass alle Waffen verschwinden, dann kann man keinen Krieg mehr führen, stimmts?

- Stimmt genau! Alle Schießwaffen, Geschütze, Panzer – alles soll verschwinden! - Anja gefiel diese Idee sehr. - Großmutter sagte, dass die Menschen immer noch nicht aufhören können zu kämpfen, sie schaffen es einfach nicht. In einer Enzyklopädie habe ich gelesen, dass es so viele Waffen auf der Welt gibt, dass unser Planet mehrfach zerstört werden könnte!

- Gut, aber dann keine Süßigkeiten? – fragte Tanja nach.

- Süßigkeiten ... Wir wünschen uns, dass sich alle Waffen in Süßigkeiten verwandeln!

- Und Panzer? Maschinengewehre? Bomben?

- Ja, ja, wir wünschen uns, dass alle Waffen sich in Süßigkeiten verwandeln!

Die Mädchen waren sehr zufrieden mit ihrer Idee und damit alles seine Ordnung hatte, schrieben sie ihren Wunsch auf ein Blatt Papier und gingen zum Flussufer. Dort lasen sie ihn, Händchen haltend, feierlich vor und warfen anschließend die Münze mit dem Buchstaben „U" in einem hohen Bogen in den Fluss. Zum Abschied blitzte die Münze in der Luft kurz auf, gluckste und verschwand.

Im gleichen Moment sprang Gefreiter Semjonow aus dem Graben und feuerte mit einem Maschinengewehr auf einen Soldaten der feindlichen Armee. Zu seiner Überraschung fielen statt Patronenhülsen bunte, Dragee-ähnliche Kugeln in alle Richtungen. In der nächsten Sekunde stellte er fest, dass er kein Maschinengewehr, sondern einen langen gestreiften Lutscher in den Händen hielt.

– Waaaaas? – war alles was dem Soldaten einfiel und er dachte: "Mein Ende ist gekommen!" Und dann noch: "Soll das ein Witz sein? Oder träume ich?" Er erstarrte in der Erwartung, dass ein Soldat der feindlichen Armee jetzt eine Granate auf ihn werfen würde, und der Soldat tat es, aber keine Granate, sondern ein Bonbon in einer lustigen Verpackung. Es herrschte völlige Stille. Das Bonbon raschelte durch die Luft und ploppte leise auf den Stiefel des Gefreiten Semjonow.

Ohne zu merken, was er tat, hob der Soldat den Bonbon auf, trat einen Schritt zurück und kletterte in den Graben, wo seine Kameraden mit überraschten Gesichtern bereits auf einem Haufen Süßigkeiten saßen.

Aber nicht nur im Schützengraben des Gefreiten Semjonow, sondern überall auf der ganzen Welt wurden Waffen in einer Sekunde in Süßigkeiten verwandelt. Süßigkeiten wurden aus Flugzeugen auf Köpfe der Bewohner belagerter Städte gestreut und lagen haufenweise in den Waffenkammern. In diesem Moment bedrohte ein Dieb, der gerade dabei war, eine Bank auszurauben, die Kassiererin mit einem Toffee und floh daraufhin unter dem ohrenbetäubenden Gelächter der Bankkunden nach Hause.

Und dann ging der Trubel erst los! Die Generäle waren zuerst erschrocken, dann fluchten sie und erst gegen Abend begannen sie darüber nachzudenken, was sie jetzt tun sollten. Hunderttausende Offiziere des Militärgeheimdienstes gaben an, mehrere Millionen Verdächtige zu haben, hatten aber keine konkrete Vorstellung davon, wie und durch wen die Waffen in Bonbons verwandelt wurden.

Hunderttausend Spione berichteten, dass auch in den Armeen anderer Länder etwas passiert sei, aber genaueres konnten sie nicht sagen. Hunderttausend Militäringenieure auf der ganzen Welt führten Millionen von Experimenten durch und berichteten, dass es absolut unmöglich sei, neue Waffen herzustellen. Sobald man zum Beispiel zwei Teile einer Pistole, miteinander verbunden hatte, verwandelten diese sich augenblicklich in ein Bonbon in den Händen des Arbeiters. Ausnahmslos alle Waffen-, Panzer-, Torpedo-, und Kanonenfabriken wurden von Süßigkeiten überschwemmt.


Und hunderttausend Chemiker und Konditoren berichteten nach Millionen von Experimenten, dass die Süßigkeiten nicht gefährlich und sogar gut seien. Die Generäle aber befahlen immer noch, sie nicht anzufassen und natürlich niemandem zu erzählen, dass sich alle Waffen in Süßigkeiten verwandelt hätten. (Was würde bloß passieren, wenn der Feind angreift und diesen Zustand ausnutzt?!) Aber das war sehr schwer zu kontrollieren: der Anblick bunter Bonbonpapiere, der Geruch von Schokolade und Karamell wirkte auf die Soldaten mehr als Drohungen. Sie bewarfen sich gegenseitig mit Süßigkeiten, lachten und aßen heimlich ab und an ein oder zwei Bonbons.

Abends zu Hause zerbrachen sich Tanja und Anja darüber den Kopf, wie sie überprüfen könnten, ob der Wunsch in Erfüllung gegangen ist.

- Vielleicht gehen wir zu einem Militärstützpunkt?

- Wer lässt uns dort hinein? Es ist doch verboten!

- Vielleicht gehen wir ins Museum und schauen, ob die ausgestellten Waffen noch dort sind?

- Das hast du dir sehr gut überlegt! Oder wir gehen in einen Laden für Jagdbedarf. Übrigens, weißt du noch, dass Papa eine Schachtel Patronen in seinem Zimmer hatte? Lass uns mal nachsehen, was meinst du?

Tatsächlich befand sich im Zimmer des Vaters der Mädchen eine Patronenschachtel, denn er ging einmal mit seinem Freund auf die Jagd. Danach sagte er, er würde das nie wieder tun, denn die Jagd sei barbarisch, wodurch die Mädchen dieses Wort lernten. Der Freund des Vaters, der die restlichen Patronen mitnehmen wollte, vergaß sie und holte die Schachtel nie wieder ab.

Anja und Tanja betraten leise Papas Zimmer, während er in der Küche Tee trank, und schauten in den Schrank. Dort, in einer Schachtel für Patronen, lagen hübsch aufgereihte Minzbonbons. Leise, damit ihre Eltern es nicht hörten, tanzten Tanja und Anja ihren Siegestanz „Hop-Hop-Hey-Hey-Hey", sprangen mehrmals in die Luft und rannten dann in die Küche, um Tee zu trinken.

- Wie gut gelaunt ihr heute seid, - lachten Mama und Papa, - spielt ihr etwas Neues?

– Nein, nein, es ist nichts Besonderes! Wir sind nur gut drauf. Lasst uns doch morgen ins Museum gehen, ja?

– Ja gerne! Morgen ist Samstag, dann gehen wir ins Museum und anschließend machen wir einen Spaziergang.

Alle tranken Tee und lachten und dann gingen Anja und Tanja ins Bett, damit sie von Süßigkeiten, Bergen von Süßigkeiten und fröhlichen Soldaten, die springen und sich mit Süßigkeiten bewerfen, träumen konnten.

Ich glaube, meine scharfsinnigen Leserinnen und Leser haben schon erraten, dass das unerklärliche Verschwinden aller Waffen zum allergrößten Geheimnis erklärt wurde. Am nächsten Tag schlossen die Museen und Geschäfte für den Jagdbedarf. Die erschrocken dreinblickenden Verkäufer und das Wachpersonal baten die Kunden und Besucher an einem anderen Tag wieder zu kommen. Ein paar Tage später kauften Anja und Tanja Farben und Pinsel im Laden.

- Kann ich bitte diesen großen Malkasten haben?

- Äh-äh…. leider fehlen hier aber ein paar Farben.

– Wie meinen Sie das? - Anja verstand nicht. – Sind nicht alle Farben im Set enthalten? Kann ich dann ein anderes Set haben?

- Äh-äh ... ich meine, dass in allen Malkästen in unserem Laden Schwarz, Braun, Grün und Blau fehlen. Vorübergehende Lieferengpässe, - der Verkäufer hätte fast geweint, es war offensichtlich, dass er schrecklich aufgewühlt war.

- Ich weiß es doch auch nicht! Bitte kommen sie später wieder! – Und der Verkäufer brach in Tränen aus und rannte ins Hinterzimmer.

Anja und Tanja schauten sich an.

- Was ist denn hier los? Sind sie denn alle verrückt geworden?

– Ich glaube, wir sind schuld ... - Tanja zog die Augenbrauen zusammen, - Was glaubst du, wer würde plötzlich all diese Farben brauchen?

- Wer? - flüsterte Anja, während es ihr aber langsam dämmerte.

- Das Militär!! - riefen die Mädchen gleichzeitig und lachten bei der Vorstellung auf, wie Generäle ihren Soldaten befahlen, Sperrholzpanzer mit Gouache zu bemalen und aus farbigem Papier Maschinengewehrattrappen zu basteln.

Die Mädchen kauften sich dennoch einen Malkasten und malten den ganzen Abend nur mit gelber, roter, lila und rosa Farbe. Das Ergebnis zählten sie zu einem neuen Genre der "nichtmilitärischen Kunst".

Hier könnten wir unser Märchen beenden. Es bleibt nur hinzuzufügen, dass die Welt natürlich sehr lange gebraucht hat, um sich an ein neues Leben zu gewöhnen. Das Militär tat sehr lange so, als sei alles beim Alten und führte bei Paraden Papppanzer, Gummipistolen und aufblasbare Geschütze vor. Anja und Tanja rollten sich vor Lachen, als sie die Militärparade sahen. Im Gegensatz zu den Erwachsenen, die es gewohnt waren, der seriösen Stimme des Nachrichtensprechers zu vertrauen und es sich nicht vorstellen konnten, dass sich so viele Menschen an einer so großen Täuschung beteiligen würden, merkten die Mädchen, wie die Soldaten einen aufblasbaren Panzer festhielten, damit dieser nicht wegfliegt.

Und die Theatermaler wurden über Nacht sehr gefragt. Man brauchte sie, um den Mangel an Waffen zu verbergen, wobei es die Künstler bald langweilte nur mit Schwarz, Grün und Braun zu malen. Nach und nach nahmen sie es sich heraus und verzierten die Waffenattrappen mit bunten Schleifen oder Blumenmustern. Und die Soldaten und Offiziere verschiedenster Armeen wurden irgendwie lustiger und freundlicher und gingen nicht wirklich gerne Marschieren, sondern verbrachten lieber mehr Zeit mit ihrer Familie, lasen Bücher, züchteten Kakteen, oder ließen Drachen steigen. Es gibt wahrlich viele interessante Dinge auf der Welt mit denen man sich beschäftigen kann.

Und Tanja und Anja lebten weiterhin in ihrer durchschnittlichen Wohnung, gingen auf ihre durchschnittliche Schule, lasen Bücher, lernten und träumten von der Zukunft: wie sie eines Tages groß werden und in ein fernes Land reisen, um dort endlich herauszufinden, was der Buchstabe "U" auf der magischen Münze für eine Bedeutung hatte. Und was glaubst du?

Möchten Sie teilnehmen?
Wenn Sie ein Märchen erfinden oder die schon geschriebenen illustrieren möchten, können Sie mehr an der Seite für Autorinnen erfahren.
Mehr Märchen