Im Wald wohnten verschiedene Tiere, Vögel und Insekten. Besonders schön war es dort im Sommer! Die Tannen-Schwestern waren mit den Vögeln und den Eichhörnchen befreundet und manche sogar mit den Krabbeltieren. Eines Wintertages kamen Autos angefahren, und Menschen holten die ältesten Schwestern von der Nachbarlichtung ab. Die Winter verbringen Bäume im Halbschlaf. Die Zeit verlangsamt sich und Himmel, Sterne und Wald – alles sehen die Bäume wie im Traum. Doch unsere kleine Tanne hatte sich gemerkt, was im Winter geschehen war. Und so fragte sie im Frühling, als der Schnee noch nicht ganz getaut war und noch nicht alle Krabbeltiere erwacht waren, die anderen Tannen, wohin die Menschen ihre älteren Schwestern gebracht hätten. Da erfuhr sie, dass Tannen nicht einfach so lebten, sondern dass die Menschen sie einpflanzten und großzogen, um mit ihnen eines schönen Tages das Neujahrsfest zu schmücken. Das sei ihre Bestimmung. Sie seien keine gewöhnlichen Tannen, sondern Schönheiten des Waldes.
Von dieser Nachricht wurde es der kleinen Tanne gleichzeitig freudig und bang zumute. Denn irgendwann (vielleicht schon bald) würde sie ihren vertrauten Wald, ihre lieben Schwestern und die Eichhörnchen-Freundinnen verlassen und dorthin fahren, woher keine Tanne je zurückgekommen ist.
Warum nur? Was erwartete sie in jener fremden Welt? Die Schwestern erzählten ihr, dass man dort, weit weg vom vertrauten Wald, die Tannen festlich schmückte, bewunderte und bestaunte.
„Und dann?", fragte unsere Tanne. Die älteren Schwestern wussten es nicht. Oder wollten es ihr nicht erzählen.
Die kleine Tanne hörte auf zu fragen und lebte weiter wie bisher: sie freute sich über Wärme und Sonne im Sommer und über Frost und süßen Halbschlaf im Winter.
Doch eines Tages war es so weit. Der Lärm einer Säge riss sie aus ihrem Schlummer. Bevor sie irgendwas spüren konnte, stand die Welt plötzlich Kopf, die Schneehauben flogen von ihren Zweigen, sie zuckte zusammen und fiel. Doch sie ging nicht zu Boden, sondern wurde aufgefangen und landete zusammen mit ihren Schwestern in einem dunklen Lastwagen. Besorgt flüsterten sie miteinander und verabschiedeten sich für immer.
Eine neue Welt erwartete sie, es galt, ihre Bestimmung zu erfüllen. Doch sie waren verängstigt, wehmütig und einsam.
Als die Tanne in die Wärme des Hauses getragen worden war, erwachte sie endgültig. Erst hier spürte sie, dass ihr die Wurzeln fehlten, die sie nährten, sobald der Boden auftaute. Ohne die sie weder trinken, essen noch stehen konnte.
Ihr Stamm wurde in einen Ständer eingespannt, man schmückte und bewunderte sie. Und sie erstarrte vor Trauer und Angst. Die Tanne begriff, warum keine ihrer Schwestern jemals zurückgekommen war. Ohne Wurzeln waren sie langsam gestorben. Auch sie würde sterben. Inmitten der fröhlichen Feierlichkeiten stand sie prachtvoll da, im bunten Lichterglanz, in Erwartung ihrer letzten Stunde.
Wie das Dasein der Neujahrstannen endete, berichtete ihr die Birke vor dem Fenster. Nach dem Fest würden die gebrauchten Bäume weggebracht, um zu Spänen weiterverarbeitet zu werden. Das hatte die Birke in ihrem langen Leben schon sehr oft gesehen.
Die Geschichte der Tanne war mit nichts zu vergleichen, was die kleine Roboter-Putzhelferin bisher erlebt hatte. Aber ihr war sofort klar, dass das nicht richtig war. Dass das nicht sein durfte.
„Das überfordert mein Programm", sagte sie zu der Tanne. „Aber deine Erzählung hat mich berührt. Ich muss darüber nachdenken. Vielleicht kann ich dir ja irgendwie helfen."
Aber wie? RHK12 kannte sich nur mit ihrer Arbeit aus. Doch der allmächtige PeCe könnte mehr darüber wissen. RHK12 war dafür zuständig, ihn abzustauben und schielte häufig auf seinen Bildschirm. Die Fotos und Videos, die sie dort sah, ließen sie erahnen, wie groß die Welt und wie schön die Natur war. Und die kleine Tanne war ein Teil davon. Es durfte nicht sein, dass sie aufgrund irgendeiner Laune der Menschen so leiden musste.
Schnurstracks begab sich RHK12 in das Arbeitszimmer, in dem PeCe stand. Sie tauschten ständig Informationen aus, aber nur die Arbeit betreffend. Und manchmal beschwerte er sich, wenn sie ihn nicht sorgfältig genug abstaubte oder die Tastatur nachlässig reinigte.
Falls Ihr das noch nie gehört habt ─ Staub ist der Erzfeind der Computer, er führt dazu, dass sie überhitzen und abstürzen; der Computerbesitzer fängt an, nervös zu werden, zu schimpfen und zu drohen, das Gerät zu verschrotten. Davor hatte PeCe große Angst. Er wusste, dass man ihn dann vom Strom trennen und in Einzelteile zerlegen oder gar als Ganzes in die Recyclingfabrik schicken würde.
PeCe besaß künstliche Intelligenz und hatte schon vor langem errechnet, dass früher oder später alle Computer verschrottet würden. Aber die Welt des globalen Netzes war so groß und schön, dass PeCe diesem Schicksal möglichst lange entgehen wollte.