Natalja Bitten
Übersetzung – Polina Kapilewitsch (melonpan)

Übersetzung – Ira Teiwes



Ein Wintermärchen über treue Freundschaft
Es lebte einmal ein Mädchen. Um genau zu sein, war es kein richtiges Mädchen und auch nicht richtig lebendig. Es war ein Roboter, der RHK12 hieß. Dieses Roboter-Mädchen sah fast wie ein Mensch aus, konnte jedoch nicht träumen oder spielen.

RHK12 musste alle Hausarbeiten verrichten. In ihrer Brust, dort, wo bei lebendigen Mädchen das Herz pocht, war ein Mikrochip mit einem Programm eingebaut.

RHK12 machte alles, was ihr das Programm vorschrieb: sie wusch die Wäsche, bügelte, räumte den Müll weg und wischte Staub, putzte und schrubbte. Mit einem Wort – sie tat alles, damit es die echten Menschen in ihrem Haus bequem und gemütlich hatten.

RHK12 war nicht der einzige Roboter. In der Küche arbeitete die Roboter-Köchin SC1455, für die Autos in der Garage war der Roboter-Mechaniker M00013-8 verantwortlich, für die Sicherheit des Hauses sorgte der Roboter-Wächter SG-007 (unter uns: niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen, aber seine Kameras und Mikrophone waren überall im Haus verteilt).

Doch der Allerwichtigste war der Personal Computer oder PeCe, wie ihn alle nannten. PeCe verfügte über den stärksten Prozessor und hatte außerdem Zugriff auf das Weltweite Netz. Daher konnte er sich Zugang zu jeder Information, zu jedem Geheimnis verschaffen. Zudem steuerte er alle Roboter in dem Intelligenten Haus, wo RHK12 tätig war.

Alle Roboter arbeiteten tüchtig und wussten, was sie zu tun hatten und was ihre Funktion war. Denn kein Roboter und auch kein Computer kann existieren, ohne eine Bestimmung zu haben.

RHK12 kannte ihre Bestimmung genau, sie war ein Roboter wie alle anderen. Mit einem kleinen Unterschied: sie liebte ihre Arbeit.

In der Fabrik, wo die Roboter zusammengebaut wurden, arbeitete nämlich Ada, eine junge Frau, die davon träumte, Programmiererin zu werden. Aber sie hatte kein Geld für eine entsprechende Ausbildung. Deswegen arbeitete sie in der Fabrik, baute Mikrochips ein und installierte Programme, und nachts und an den Wochenenden las sie schlaue Bücher. Die monotone, eintönige Arbeit bedrückte Ada. Eines schönen Tages schrieb sie ein Programm und installierte es heimlich in einem der Roboter. Das tat sie, damit dieser Roboter unterscheiden konnte, was er mochte und was nicht.

Darum wusste RHK12, dass ihre Arbeit ihr gefiel. Sie mochte das Intelligente Haus. Man kann sagen, dass sie glücklich war (auf die Weise eines Roboters, der weiß, dass er seinen Platz im Leben gefunden hat). Und so nahmen die Dinge ihren üblichen Lauf, bis eines frühen frostigen Morgens ein junges üppiges Tannenbäumchen ins Haus gebracht wurde. Denn Neujahr stand vor der Tür.

Als das Tannenbäumchen aufgetaut war, veränderte sich die Atmosphäre im Haus: es duftete nach Nadeln und Wald. Die Gesichter der Menschen fingen an zu strahlen. Man holte buntes Spielzeug aus der Abstellkammer, schmückte das Bäumchen und behängte es schließlich mit leuchtenden Girlanden. Das war herrlich!


Sogar RHK12 bewunderte diese Pracht (wir wissen ja, dass sie kein gewöhnlicher Roboter war).

Für die Menschen begannen fröhliche Festtage, und RHK12 hatte nun mehr zu tun. Doch ihr fiel das gar nicht auf, denn ihr gingen mit einem Mal völlig neue Gedanken durch den Kopf.

Womöglich waren es gar keine Gedanken, sondern Gefühle. Freude und Trauer. RHK12 freute sich über die Schönheit der kleinen Tanne, darüber, dass diese lebendig war und dass einem bei ihrem Anblick warm ums Herz wurde.

Gleichzeitig war RHK12 traurig. Denn niemand schaute sie jemals mit solcher Begeisterung an, niemand lobte sie, niemand scherte sich um sie. Sie wurde nur planmäßig gewartet, damit sie weiterhin störungsfrei funktionierte.

Und das tat sie. Eines Tages fiel ihr jedoch auf, dass unter dem Bäumchen immer mehr trockene Nadeln lagen. Unbemerkt von den Anderen verlor die Tanne ihre Frische, verströmte nicht mehr jenen zauberhaften Duft, und ihre Zweige neigten sich unter dem Gewicht des Schmucks immer tiefer. Auf einmal verstand RHK12, dass die kleine Tanne sehr traurig war. Das war seltsam, denn sie wurde doch von allen geliebt und bewundert. RHK12 beschloss, mit ihr zu reden.

„Warum bist du traurig?", fragte sie die kleine Tanne, als sie wieder einmal die Nadeln unter ihr wegfegte. „Alle lieben dich, du bist wunderschön! Dein Leben ist ein wahres Fest! Du musst dich doch freuen!"

Aber die kleine Tanne seufzte nur und ließ ihre Zweige noch tiefer hängen, weshalb sie noch viel mehr Nadeln als sonst verlor. RHK12 sammelte sie alle auf und machte sich eilig wieder an ihre Arbeit. Sie war ohnehin schon von ihrer Programmroutine abgewichen.

Der ungewöhnliche Tag ging zu Ende. Wie üblich verbrachten die Menschen den Abend in der Nähe des schmucken Bäumchens und gingen dann zur Ruh. Anschließend räumte RHK12 auf, damit das Zimmer am nächsten Morgen wieder in seiner vollen Gemütlichkeit und Sauberkeit erstrahlte.

Da sprach die kleine Tanne zu ihr: „Ich bin traurig, weil ich sterbe. In ein paar Tagen wird man mich wie Müll wegwerfen. Du weißt wahrscheinlich, dass gebrauchte Neujahrstannen weiterverarbeitet werden. Aus mir werden Späne gemacht. Aber mir ist das egal, denn ohne Wurzeln kann ich ohnehin nicht leben. Mich betrübt nur das eine: nie wieder werde ich meinen Heimatwald sehen, mich von meinen lieben Schwestern verabschieden können."

Diese Worte erschütterten RHK12. Nicht ein einziges Mal hatte sie darüber nachgedacht, was mit der kleinen Tanne nach dem Fest geschehen würde. „Was ist mit dir passiert?", fragte sie. Und die Tanne erzählte ihre Geschichte.

Sie war in einer Baumschule für Neujahrstannen geboren und aufgewachsen. Auf einer Lichtung stand eine Vielzahl gleichaltriger Schwestern. Als sie noch ganz klein waren, wuchs im Sommer das Gras über ihre Wipfel hinaus und im Winter überdeckten Schneewehen sie.


Im Wald wohnten verschiedene Tiere, Vögel und Insekten. Besonders schön war es dort im Sommer! Die Tannen-Schwestern waren mit den Vögeln und den Eichhörnchen befreundet und manche sogar mit den Krabbeltieren. Eines Wintertages kamen Autos angefahren, und Menschen holten die ältesten Schwestern von der Nachbarlichtung ab. Die Winter verbringen Bäume im Halbschlaf. Die Zeit verlangsamt sich und Himmel, Sterne und Wald – alles sehen die Bäume wie im Traum. Doch unsere kleine Tanne hatte sich gemerkt, was im Winter geschehen war. Und so fragte sie im Frühling, als der Schnee noch nicht ganz getaut war und noch nicht alle Krabbeltiere erwacht waren, die anderen Tannen, wohin die Menschen ihre älteren Schwestern gebracht hätten. Da erfuhr sie, dass Tannen nicht einfach so lebten, sondern dass die Menschen sie einpflanzten und großzogen, um mit ihnen eines schönen Tages das Neujahrsfest zu schmücken. Das sei ihre Bestimmung. Sie seien keine gewöhnlichen Tannen, sondern Schönheiten des Waldes.

Von dieser Nachricht wurde es der kleinen Tanne gleichzeitig freudig und bang zumute. Denn irgendwann (vielleicht schon bald) würde sie ihren vertrauten Wald, ihre lieben Schwestern und die Eichhörnchen-Freundinnen verlassen und dorthin fahren, woher keine Tanne je zurückgekommen ist.

Warum nur? Was erwartete sie in jener fremden Welt? Die Schwestern erzählten ihr, dass man dort, weit weg vom vertrauten Wald, die Tannen festlich schmückte, bewunderte und bestaunte.

„Und dann?", fragte unsere Tanne. Die älteren Schwestern wussten es nicht. Oder wollten es ihr nicht erzählen.

Die kleine Tanne hörte auf zu fragen und lebte weiter wie bisher: sie freute sich über Wärme und Sonne im Sommer und über Frost und süßen Halbschlaf im Winter.

Doch eines Tages war es so weit. Der Lärm einer Säge riss sie aus ihrem Schlummer. Bevor sie irgendwas spüren konnte, stand die Welt plötzlich Kopf, die Schneehauben flogen von ihren Zweigen, sie zuckte zusammen und fiel. Doch sie ging nicht zu Boden, sondern wurde aufgefangen und landete zusammen mit ihren Schwestern in einem dunklen Lastwagen. Besorgt flüsterten sie miteinander und verabschiedeten sich für immer.

Eine neue Welt erwartete sie, es galt, ihre Bestimmung zu erfüllen. Doch sie waren verängstigt, wehmütig und einsam.

Als die Tanne in die Wärme des Hauses getragen worden war, erwachte sie endgültig. Erst hier spürte sie, dass ihr die Wurzeln fehlten, die sie nährten, sobald der Boden auftaute. Ohne die sie weder trinken, essen noch stehen konnte.

Ihr Stamm wurde in einen Ständer eingespannt, man schmückte und bewunderte sie. Und sie erstarrte vor Trauer und Angst. Die Tanne begriff, warum keine ihrer Schwestern jemals zurückgekommen war. Ohne Wurzeln waren sie langsam gestorben. Auch sie würde sterben. Inmitten der fröhlichen Feierlichkeiten stand sie prachtvoll da, im bunten Lichterglanz, in Erwartung ihrer letzten Stunde.

Wie das Dasein der Neujahrstannen endete, berichtete ihr die Birke vor dem Fenster. Nach dem Fest würden die gebrauchten Bäume weggebracht, um zu Spänen weiterverarbeitet zu werden. Das hatte die Birke in ihrem langen Leben schon sehr oft gesehen.

Die Geschichte der Tanne war mit nichts zu vergleichen, was die kleine Roboter-Putzhelferin bisher erlebt hatte. Aber ihr war sofort klar, dass das nicht richtig war. Dass das nicht sein durfte.

„Das überfordert mein Programm", sagte sie zu der Tanne. „Aber deine Erzählung hat mich berührt. Ich muss darüber nachdenken. Vielleicht kann ich dir ja irgendwie helfen."

Aber wie? RHK12 kannte sich nur mit ihrer Arbeit aus. Doch der allmächtige PeCe könnte mehr darüber wissen. RHK12 war dafür zuständig, ihn abzustauben und schielte häufig auf seinen Bildschirm. Die Fotos und Videos, die sie dort sah, ließen sie erahnen, wie groß die Welt und wie schön die Natur war. Und die kleine Tanne war ein Teil davon. Es durfte nicht sein, dass sie aufgrund irgendeiner Laune der Menschen so leiden musste.

Schnurstracks begab sich RHK12 in das Arbeitszimmer, in dem PeCe stand. Sie tauschten ständig Informationen aus, aber nur die Arbeit betreffend. Und manchmal beschwerte er sich, wenn sie ihn nicht sorgfältig genug abstaubte oder die Tastatur nachlässig reinigte.

Falls Ihr das noch nie gehört habt ─ Staub ist der Erzfeind der Computer, er führt dazu, dass sie überhitzen und abstürzen; der Computerbesitzer fängt an, nervös zu werden, zu schimpfen und zu drohen, das Gerät zu verschrotten. Davor hatte PeCe große Angst. Er wusste, dass man ihn dann vom Strom trennen und in Einzelteile zerlegen oder gar als Ganzes in die Recyclingfabrik schicken würde.

PeCe besaß künstliche Intelligenz und hatte schon vor langem errechnet, dass früher oder später alle Computer verschrottet würden. Aber die Welt des globalen Netzes war so groß und schön, dass PeCe diesem Schicksal möglichst lange entgehen wollte.


Als er sich nachts wieder einmal im weltweiten Netz herumtrieb, tauchte RHK12 vor ihm auf und stellte eine eigenartige Anfrage: sie wollte wissen, woher die Neujahrstanne stammte, die man ihnen ins Haus geliefert hatte. Dazu muss man wissen, dass PeCe die Neujahrstanne alljährlich in demselben Laden bestellte. Es gab Läden, die Bäume aus dem fernen Sibirien und dem noch ferneren Kanada verkauften. Aber er hatte berechnet, dass es am günstigsten war, Tannen in der nächstgelegenen Baumschule zu kaufen.

PeCe kannte die Antwort auf RHK12s Anfrage, doch warum sollte er darauf antworten? Warum sich von seinen Angelegenheiten ablenken lassen? Deshalb ignorierte er die Anfrage. Aber RHK12 blieb außerordentlich hartnäckig. Sie schickte eine erneute Anfrage, dann noch eine und noch eine, bis PeCes Betriebssystem überlastet war.

Das ging zu weit! Er schickte ihr eine Gegenanfrage: „Wofür brauchst du das?"





RHK12 war so programmiert, dass sie PeCe gegenüber Rechenschaft ablegen musste. Daher gab sie die Erzählung der kleinen Tanne wieder und fügte von sich aus hinzu, dass sie ihr sehr gerne helfen würde, aber nicht wisse, wie. PeCe startete die Bearbeitung der Anfrage, und die Nacht neigte sich dem Ende zu, während RHK12 auf die Antwort wartete. In ein paar Stunden würden die Menschen aufwachen, und die Computer müssten wieder ihnen allein zu Diensten stehen.

Endlich spuckte PeCe die Antwort aus. Die Tanne zurückzubringen, wäre ökonomisch nicht sinnvoll, aber technisch möglich. Die Menschen könnten sie zurück in den Wald fahren. Aber üblicherweise würden die Neujahrstannen nach dem Fest zur Holzverarbeitungsfabrik gebracht.

Am Morgen würde RHK12 eine neue Aufgabe bekommen – die Tanne abzuschmücken und zu den Müllcontainern hinauszutragen, von wo sie zur Weiterverarbeitung abgeholt würde.

Die Menschen würden also, wurde RHK12 klar, die sterbende Tanne nicht in den Wald zurückbringen. Warum auch? Sie hatte ja ihre Lebensaufgabe erfüllt und musste ihren Weg zu Ende gehen. Genau so hatten es die Menschen vorgesehen.

In diesem Moment trat ein Fehler in RHK12s Prozessor auf. Sie begriff, wie ungerecht das war. Die kleine Tanne musste sterben, nur weil sie schön war und die Menschen daraus einen Nutzen ziehen wollten!

Natürlich war die kleine Tanne nicht mehr zu retten. Aber selbst in dieser schweren Stunde konnte man ihr noch helfen. Helfen, dorthin zu gelangen, wo sie am liebsten weiterhin gelebt hätte – in ihren Winterwald.

„Unmöglich", sagte PeCe. „Roboter dürfen das Gelände nicht verlassen. Wir alle sind das Eigentum unserer Herren und müssen ihnen dienen. Dein Prozessor ist defekt, man wird dich zur Wartung schicken, Ersatzteile einbauen und ein neues Betriebssystem installieren. Du wirst dich nicht mehr an diesen toten Baum erinnern. Zum nächsten Neujahr wird hier eine andere Tanne stehen."

Alles vergessen wollte RHK12 ganz und gar nicht. Und noch weniger wollte sie, dass die kleine Tanne morgen in Späne verwandelt würde.

„Ich bestehe darauf, dass du mir hilfst", sagte sie entschieden zu PeCe. „Wenn du dich weigerst, werde ich dich nicht mehr abstauben. Dann wirst du kaputt gehen."

Bei diesen Worten erhitzte sich PeCe. Nie hätte er gedacht, dass sein Schicksal von einer kleinen Roboter-Putzhelferin abhängen könnte. Doch ihr Ultimatum war ernst zu nehmen. Keiner wusste besser als er, wie schnell Technik veraltete. Seine Vorzüge waren nicht nur der leistungsfähige Prozessor, sondern auch seine hohe Zuverlässigkeit. Sollte er jedoch kaputt gehen, würden seine Besitzer sofort einen Ersatz für ihn finden.

„Gut", gab er widerwillig nach. „Aber wenn du gehst, wirst du es nicht mehr hierher zurückschaffen. Und falls doch, wird man dich zurücksetzen. Ich kann dafür sorgen, dass alle denken, du hättest das Gelände aufgrund eines Programmfehlers verlassen und dich verlaufen. Ich werde alle Informationen löschen, anhand derer man dich identifizieren könnte. Wobei das nicht so wichtig ist. Deine Akkukapazität reicht sowieso nicht aus, um aus dem Wald zurückzukehren. In der Kälte wird dein Akku sich schneller entladen als sonst."

Diese Wendung hatte RHK12 nicht erwartet: sie hatte ja das Haus noch nie verlassen und wusste nicht, dass Akkus sich in der Kälte schneller entluden.

Sie musste ihr Betriebssystem neustarten, um diese Information zu verarbeiten. Währenddessen wartete PeCe.

„Ich bin zum Ergebnis gekommen" sagte RHK12 schließlich, „dass es in dieser Situation keine andere Lösung gibt. Ich bin einverstanden."

Die kleine Tanne starrte aus dem dunklen Fenster, ihr schien, ihr geliebter Wald sei genau dort. In ihren Gedanken zog es sie dahin. Als sie spürte, dass RHK12 ihr den Schmuck abnahm, zuckte sie zusammen.

„Warum tust du das? Ist meine Zeit schon gekommen?" fragte sie erschrocken.


„Nein", erwiderte RHK12. „Mein Programm ist abgestürzt. Ich bin kaputt und will nicht mehr hier arbeiten. Außerdem möchte ich dich zurück in den Wald zu deinen geliebten Schwestern bringen. Das ist alles, was ich für dich tun kann."

„Das ist wertvoller als der allerschönste Schmuck", antwortete kleine Tanne. „Das ist das unglaublichste und großzügigste Geschenk, das man sich nur vorstellen kann. Du bist meine treuste Freundin und geliebte Schwester."

Wäre RHK12 ein gewöhnliches Mädchen gewesen, hätte sie schwer geseufzt. Manchmal hat man im Leben nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Und die kleine Tanne ahnte nicht, was RHK12 ihretwegen riskierte und was diese Entscheidung bedeutete.

Zur dunkelsten Stunde, wie sie nur kurz vor Sonnenaufgang herrscht, trat RHK12 mit der kleinen Tanne auf den Armen erst aus dem Haus, dann zum Tor hinaus. Nur PeCe wusste Bescheid, und der Wachroboter ahnte es womöglich. Sicher konnte er es nicht wissen, denn im Intelligenten Haus hatte es einen kurzen Stromausfall gegeben. Zudem war unbemerkt ein Navigationsgerät verschwunden. Unermüdlich folgte RHK12 der eingegebenen Route, bis sie bei Sonnenaufgang die Heimatlichtung der kleinen Tanne erreichten.



Dort war es still und leer. Viele Schwestern der kleinen Tanne waren von Menschen aus dem Wald geholt und, nachdem man sich das Weihnachtsfest mit ihnen verschönt hatte, zu Spänen weiterverarbeitet worden. Nun war es ein trauriger Wald.

Doch die kleine Tanne atmete die vertraute Luft ein, fasste sich, umarmte RHK12 mit ihren Zweigen und sprach: „Jetzt bin ich zuhause. Was für ein Glück. Bitte, bleib bei mir bis zum Ende, und wenn ich einschlafe, nimm dir einen meiner Zweige zum Andenken. Damit ich immer bei dir bin."

Und das tat RHK12 dann auch.

Ein klarer Morgen brach an. Vor dem blauen Himmel schwebten glitzernde Frostkristalle, die Tannen trugen festliche Schneehauben, und der Schnee funkelte in der Kälte.

RHK12 sah, wie wenig Energie in ihrem Akku verblieb. Trotzdem war sie glücklich (wenn man das von einem Roboter behaupten kann). Sie wusste, dass ihre wunderschöne Tanne im Frühling nicht mehr aus dem Winterschlaf erwachen würde, doch ihr letzter Wunsch war in Erfüllung gegangen. Und in einem Innenfach RHK12s lag der prächtigste Zweig der kleinen Tanne.

RHK12 fand den Weg zur nächsten Straße. Für sie gab es kein Zurück mehr. Doch standen ihr alle Wege offen. Sie beschloss zu gehen, solange ihre Energie reichte.


***


Barbara hatte ihr ganzes Leben dem Studium der Genetik gewidmet. Da sie obendrein Oma war, fuhr sie eines klaren frostigen Morgens zu ihrer geliebten Enkelin in die Nachbarstadt. Als Geschenke hatte Barbara leckere Piroggen und eine warme Strickjacke dabei, die sie in einem Laden gekauft hatte. Eine vielbeschäftigte Oma hat keine Zeit, Piroggen zu backen und Wolljacken zu stricken. Aber Tradition ist Tradition: zu Neujahr schenkt man sich nun einmal Köstlichkeiten und warme Kleidung.

Barbara freute sich über den weißen Schnee und die gerade Straße, die sich vor ihr in die Ferne erstreckte. Plötzlich bemerkte sie am Straßenrand eine ungewöhnliche Gestalt. Barbara fuhr langsamer. Die Gestalt, die sie zunächst für einen Menschen hielt, erwies sich bei näherer Betrachtung als Roboter.

Was für ein Fund! Noch nie hatte sie einen Hausroboter auf der Straße gesehen. Allem Anschein nach war er kaputt.

Von Kindesbeinen an war Barbara sehr wissbegierig gewesen. Freilich hatten manche sie einfach für neugierig gehalten und daher „neugierige Barbara" getauft - bis sie dank ihrer Wissbegierde den Nobelpreis verliehen bekam. Das brachte alle, die sie früher gehänselt hatten, ins Grübeln.

Jetzt hielt Barbara an und ging nachsehen. Das Roboter-Mädchen war doch nicht kaputt. Ihr Akku war ganz einfach leer.

„Was da wohl passiert ist?", sagte Barbara zu sich. „Ich nehme sie mal mit, in der Stadt untersuchen wir dann, was mit ihr los ist."

Gemeinsam mit ihrer Enkelin Kristiane rätselte sie lange darüber nach, wie RHK12 auf die Landstraße gelangen sein konnte. Bestimmt habt ihr gleich erraten, dass es sich bei der Maschine um RHK12 handelte. Barbara und Kristiane hatten die Kennzeichnung auf dem Körper des Roboters entdeckt. RHK12 war ja nicht nur ein kühnes und gutherziges Mädchen, sondern auch ein Roboter eines bestimmten Bautyps.

Oma und Enkelin brachten RHK12 in eine Werkstatt, ließen den Akku, manche defekten Teile und sogar einige Finger austauschen, die gebrochen waren, als RHK12 die schwere Tanne durch den verschneiten Wald getragen hatte.

Das Wichtigste war: der Prozessor musste nicht ausgetauscht werden. Und als das Netzteil von RHK12 wieder funktionierte, erinnerte sie sich an alles. Sogleich überprüfte sie, ob der Zweig, das Andenken an die kleine Tanne, noch da war.

Aus unerfindlichen Gründen war auch in der Werkstatt nicht mehr festzustellen, wem der Roboter gehört hatte. Deshalb gab man ihn Barbara zurück. Nun durfte sie RHK12 behalten.

Sicher konnte man eine solche Helferin im Haus gut gebrauchen. Aber Barbara war der Überzeugung, dass sogar Roboter ein Recht darauf hatten, zu entscheiden, welchen Aufgaben sie nachgehen wollten. Umso mehr, als RHK12 ein ungewöhnlicher Roboter mit einer rätselhaften Vorgeschichte war. Sie traf dann auch eine überraschende Wahl: RHK12 wollte in einem Wissenschaftslabor arbeiten und sich mit dem Klonen befassen. Mit dem Klonen von Bäumen!

So war es nicht verwunderlich, dass alsbald im Garten der Nobelpreisträgerin Barbara, direkt vor dem Fenster, eine geklonte kleine Tanne fröhlich grünte. Und niemand konnte dem Bäumchen so viele zauberhafte Märchen über seine wunderbare Mutter aus dem Winterwald erzählen wie RHK12.


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