Leda Garina

Übersetzung – Petra Huber


Märchen über die tote Erde
Einst herrschte Krieg, und die Erde lag im Sterben. Es starben die Flüsse, die Wälder und Wiesen. Es starben die Meere und Bäche, die Seen und Flüsse, und ihr Wasser färbte sich schwarz. Die Tiere des Landes und des Himmels verschwanden. Alles Leben verschwand.

Den Krieg hatten die Männer begonnen, denn sie wollten so viele Fabriken, Betriebe und Dampfschiffe wie möglich erobern. Dann wollten sie beweisen, wer Recht hatte. Die Frauen mussten unentwegt gebären, um für den Nachschub an Soldaten zu sorgen. Bis sie nicht mehr gebären konnten, weil die Erde im Sterben lag. Da verbrannte man die Frauen in den Öfen, in denen das Metall für die Granaten geschmolzen wurde. Denn wer die letzte Granate hatte, würde den Sieg davontragen. Doch als die letzte Granate explodiert war, gab es auf der Erde keine Fabriken und keine Dampfschiffe und keine Häuser mehr. Und auch keine Männer und Frauen.

Als die letzte Granate explodiert und der letzte Schrei und das letzte Stöhnen verklungen waren und nur noch der pfeifende Wind die Asche in schwarzen Wolken davontrug, kamen die Kinder – lauter Jungen - aus der Erde hervorgekrochen. Sie waren so klein, dass sie noch nicht als Soldaten getaugt hatten, und da sie sich in Erdspalten und –höhlen verborgen hielten, waren sie unversehrt geblieben. Lange hatten sie sich dort unten versteckt, aus Angst, an der Erdoberfläche könnte noch etwas explodieren. Sie hatten sich von Ratten ernährt, bis es auch keine Ratten mehr gab.

Die Jungen sahen sich nach allen Seiten um und hielten sich voneinander fern, aus Angst, einer von ihnen könnte schießen oder einen Stein werfen. Ihre Haut war schwarz wie der Wind und ihre Haare staubig wie die Erde. Irgendwann begriffen sie, dass keiner von ihnen einen Stock oder ein Messer hatte. Und sie begannen darüber nachzudenken, wo sie etwas zu essen finden könnten. Mit bloßen Händen durchwühlten sie die Erde und räumten verbogene Eisenteile beiseite, doch überall war nur Asche.

„Warum sind wir nur hevorgekrochen?", rief einer der kleinen Jungen. „Wir hätten unten bleiben sollen!"

„Lasst uns lieber Krieg spielen!", rief ein anderer und nahm ein Stück geschmolzenes Metall in die Hand. „Das ist mein Maschinengewehr!"

„Wartet", rief ein Dritter, „ich versuche etwas!"

Er legte sich auf die Erde und hielt die Handflächen darüber, als wolle er etwas wärmen. So lag er einige Zeit, bis unter seinen Handflächen etwas aus dem Boden spross - ein Schößling mit zwei zarten grünen Blättern. Dieser wuchs im Nu zu einem Baum heran. Als der Junge dessen Stamm umarmte, bekam der Baum Blüten, die sogleich zu runden, roten Früchten wurden. Der grüne, weitverzweigte Baum sah auf der schwarzen Erde merkwürdig aus.

„Ich denke, die kann man essen", sagte der Junge und pflückte eine der saftigen Früchte. Da rissen die Jungen einander die runde Frucht aus den Händen und riefen: „Das sieht aus wie eine Granate!" - „Es sieht aus wie eine Mine!" - „Wie eine Ratte sieht es nicht aus" – „Das kann man bestimmt nicht essen!"

Doch der Junge, der den Baum wachsen lassen hatte, pflückte eine zweite Frucht und teilte sie in zwei Hälften. Im Inneren befanden sich rubinrote, durchscheinende Kerne. Er nahm einen Bissen davon und reichte die Frucht weiter.

„Köstlich!", schrien die Jungen und rissen Früchte vom Baum. „Obwohl sie nicht wie Ratten oder Granaten aussehen!"

Bald waren jedoch keine Früchte mehr da, und die Kinder hatten noch immer Hunger. Da beugte sich der Junge, der den Baum wachsen lassen hatte, wieder zur Erde, hielt die Hände darüber, und schon spross ein weiterer Schößling empor. Dieser wuchs zu einem zweiten Baum heran, der gelbe, kernlose Früchte trug. Man konnte sie mit der Schale essen.

Nachdem die Jungen auch diese Früchte verspeist hatten, fragten sie den, der die Bäume wachsen lassen hatte: „Wie machst du das? Warum wachsen unter deinen Händen Früchte aus der Erde? Warum keine Ratten oder Granaten?"

„Ich schenke ihnen Zärtlichkeit", antwortete der Junge.

„Was bedeutet ,Zärtlichkeit'? Was ist das überhaupt? Denkst du dir das nicht aus? Woher weißt du, dass es so etwas gibt?", riefen die anderen durcheinander.

„Ich bin ein Mädchen", antwortete der Junge (genauer gesagt, das Mädchen), „und meine Mama hat mir davon erzählt!"

Die Jungen staunten sehr, denn äußerlich sahen sie alle gleich aus. Auch der Junge, der behauptete, ein Mädchen zu sein, unterschied sich nicht von den anderen.

„Kannst du uns zeigen, wie man Essen aus der Erde wachsen lässt?", fragten die Jungen.

„Ich versuche es", gab das Mädchen zurück. „Beugt euch zur Erde hinunter, bedeckt sie mit euren Händen, und probiert, sie zu wärmen. Und das Wichtigste ist: Ihr müsst Zärtlichkeit für das fühlen, was in ihr sein könnte."

Sogleich ließen sich die Jungen auf die Erde fallen, legten die Handflächen darüber und begannen zu warten. Doch nichts passierte. Nichts spross aus dem Boden. Nur einem der Jungen gelang es, ein Maschinengewehr wachsen zu lassen, das zum Glück nicht funktionierte.

„Du hast uns angelogen!", riefen die Jungen. „Dafür verprügeln wir dich! Wir wärmen die Asche wie verrückt – und nichts passiert!"

„Verspürt ihr denn Zärtlichkeit?", fragte das Mädchen.

„Hör auf mit deiner Zärtlichkeit", riefen die Jungen. „Gleich zeigen wir's dir! Zuerst verprügeln wir dich, dann zwingen wir dich, so viele Bäume wachsen zu lassen, dass wir essen können, bis wir platzen!"

„Wartet", sagte das Mädchen. „Ich zeige euch, wie das geht."

Und es trat zu einem der Jungen und legte die Arme um ihn. Dieser wand sich unbehaglich und wollte das Mädchen wegstoßen, dann lachte er laut und rief: „Ist das doof!". Er wusste nämlich nicht, wie man sich verhält, wenn man umarmt wird.

„Solange du lachst", sagte das Mädchen, „kann keine Zärtlichkeit in dir aufsteigen."

„Sei ruhig", zischten die anderen Jungen ihn an, „und hör dem Mädchen zu."

Da begriff der Junge, der umarmt wurde, dass die anderen ihn nicht verspotten würden und hielt sich ganz still.

„Na, was spürst du?", fragten die anderen. „Wie steht's mit der Zärtlichkeit?"

„Keine Ahnung", antwortete er. „Ich spüre Wärme."

„Na also", sagte das Mädchen. „Das ist wichtig. Wenn du Wärme spürst, kannst du anderen Wärme geben!"

Da stellten sich die Jungen hintereinander auf, um sich von dem Mädchen umarmen zu lassen.

„Wird dir warm?", fragten die, die weiter entfernt standen, den, der gerade umarmt wurde.

„Nein!", antwortete dieser. „Ah, wartet. Ich glaube, jetzt wird mir warm."

Nachdem das Mädchen alle der Reihe nach umarmt hatte, sagte es: „Und jetzt versucht, einander zu umarmen. Damit ihr nicht nur Wärme spürt, sondern auch andere wärmen könnt."

„Ach nein", weigerten sich die Jungen, doch dann legten die Mutigsten die Arme umeinander.

„Na also", sagte das Mädchen. „Wichtig ist, sich Zeit zu lassen. Wärme braucht Zeit."

Da umarmten auch die anderen Jungen einander. Zuerst kicherten sie und schubsten einander, weil sie kitzlig waren und sich albern vorkamen. Dann aber hielten sie sich ganz still und genossen die fremde Wärme. Und schlossen einander so fest wie möglich in die Arme.

„Und jetzt versucht mal, dasselbe bei der Erde zu machen", sagte das Mädchen.

Die Jungen, die ganz still geworden waren, gingen auf die Knie oder in die Hocke und begannen, die Erde mit den Händen zu wärmen. Manche saßen zu zweit oder zu dritt zusammen, um gemeinsam mehr Wärme zu erzeugen.

Und siehe da – schon sprossen unter ihren Händen erste Schößlinge hervor. Die Jungen wussten nicht, welche Pflanzen das waren, doch wir hätten gleich erkannt, dass es sich um einen Ahorn-, ein Kastanien- und ein Apfelbäumchen sowie Wermut und Gurken handelte.

„Oh", rief plötzlich der Kleinste. „Eine Ratte!"

Unter seinen Händen sprang ein weißes, pelziges Tierchen mit langen Ohren hervor und schoss wie der Blitz davon.

„Nein", sagten die anderen. „Da es keinen Schwanz hat, kann es keine Ratte sein. Lass es in Ruhe. Bestimmt ist es eine Pflanze, die irgendwann Früchte bekommt. Wenn es größer ist."

Vergnügt ließen die Jungen Pflanzen wachsen und schauten zu, was unter den Händen der anderen hervorspross.

Derweil stieg das Mädchen in den schwarzen Bach, der dort vorbeifloss. Lange stand es im Wasser. Bis sich dieses schließlich blau färbte.

Als das Mädchen wieder ans Ufer stieg, sah es, dass die Jungen bereits einen Garten wachsen lassen hatten.

„Jetzt wisst ihr, wie man die Erde heilt", sagte es zu den Jungen. „Und ihr müsst um den ganzen Erdball wandern. Geht, so weit die Füße tragen, und wärmt die Erde, damit es wieder überall grünt. Ich bin jetzt sehr müde. Weckt mich nicht, ich will mich ausruhen!"

Und es legte sich unter den Granatapfelbaum und schlief ein. Ganze drei Tage vergingen, und die Jungen weckten es nicht.

Die Bäume neigten sich über das Mädchen, das Gras stand lautlos. Und Kornblumen wuchsen durch seinen Körper hindurch.


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